Blind in HH

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Blind in einer neuen Stadt
Wie suchen sich blinde Menschen eine Wohnung aus? Wie finden sie zum nächsten Supermarkt, zur U-Bahn? Als sehende Person geht man ganz selbstverständlich davon aus, dass blinde Menschen permanent auf Hilfe angewiesen sind. Im Gespräch mit BGFG-Mitglied Sylvia Lenz stellen wir fest: Das ist falsch. Die studierte Theologin und ausgebildete Callcenter-Agentin lebt seit dem 01.10.2020 im BGFG-Quartier in Hamm-Nord. Sie ist blind.
Mainz, Koblenz, Trier, Stuttgart, Marburg – Sylvia Lenz hat bereits an vielen Orten in Deutschland gelebt. Aufgewachsen ist sie in Saarburg in Rheinland-Pfalz. Seit dem 01.10.2020 lebt sie offiziell in Hamburg in einer Zwei-Zimmer-Wohnung der BGFG in Hamburg-Hamm. Die Wohnung habe ihr von Anfang gut gefallen, erzählt sie. Aber woran macht sie das eigentlich fest? „Es gibt viele Dinge, die man durch Fühlen und Hören herausfinden kann. Ich habe schon so viele Wohnungen gesehen und man hat auch als blinder Mensch ein Gespür dafür, ob einem eine Wohnung gefällt und was sich gut anfühlt“, sagt Sylvia Lenz. Auch Gerüche spielen dabei eine Rolle. „Ich bin Nichtraucherin und lege zum Beispiel großen Wert auf eine gute Luft in der Wohnung.“ Um auf Nummer sicher zu gehen hatte Sylvia Lenz bei der Besichtigung ihrer neuen Wohnung trotzdem eine sehende Begleitung dabei. „Einfach, um auf die optischen Aspekte zu achten, die man durch Fühlen und Hören nicht einbeziehen kann“, erzählt sie.
Das Smartphone als digitaler Sinnes-Helfer
Direkt am Abend der Besichtigung schrieb Sylvia Lenz der BGFG, dass sie Interesse an der Wohnung habe. „Keine 24 Stunden später erhielt ich die telefonische Zusage“, erinnert sich Sylvia Lenz. Der Mietvertrag kam per Post. Damit Sylvia Lenz weiß, wo sie auf dem Vertrag unterschreiben muss, hatte sie im Vorfeld darum gebeten, die entsprechende Stelle mit einem fühlbaren Hinweis zu versehen. Die Vertragsinhalte ließ sie sich – wie andere Dokumente und Briefe auch – durch eine App ihres iPhones vorlesen. „Es gibt wahnsinnig viele dieser Hilfs-Apps. Die Schriftstücke werden einfach per Smartphone gescannt und dann von der App vorgelesen. Das funktioniert selbst bei kleinsten Schriftstücken, wie der Beschreibung auf Kosmetikprodukten“, erzählt sie.
Ankommen und einleben
Sylvia Lenz fühlt sich in ihrer neuen Wohnung sehr wohl und hat sich gut eingelebt. „Viele sehende Menschen stellen sich vor, dass blinde Menschen auch in ihrer Wohnung mit dem Stock herumlaufen“, sagt sie. „Das ist aber nicht so. Ich bewege mich in der Wohnung ganz frei. Man bekommt schnell ein Gefühl für Räumlichkeiten und ich konnte mir ja auch selbst aussuchen, was wohin gestellt wird. Die Wohnung hatte ich schnell drauf. Nur mit dem Umfeld ist das natürlich schwieriger. Ich benötige dafür ein sogenanntes Mobilitäts- und Orientierungstraining, das man bei der Krankenkasse und dem Amt für Eingliederungshilfe beantragt.“
Mobilitäts- und Orientierungstraining
Bei dem Mobilitäts- und Orientierungstraining handelt es sich um ein Schulungsprogramm, das es blinden Menschen ermöglicht, sicher und selbständig mobil zu sein und sich orientieren zu können. „Wenn man zum ersten Mal das Training in Anspruch nimmt, als jugendliche oder neu-blinde Person, erlernt man erstmal die Grundtechniken: Wie gehe ich mit dem Langstock? Wie schleife ich ihn und wie erkenne ich Hindernisse? Diese Grundtechniken beherrsche ich schon lange. Bei mir geht es jetzt darum, dass mir eine geschulte Person die wichtigen Wege meiner neuen Umgebung beibringt: den Weg zur U- und zur S-Bahn, den Weg zum nächsten Supermarkt, zum Blinden- und Sehverein, in dem ich mich engagiere, und den Weg zu meiner Kirchengemeinde“, erkärt Sylvia Lenz. Bei dem Training gibt sie die Ziele vor, die für sie wichtig sind und die Trainerin oder der Trainer sucht den optimalen Weg. Dabei wird auf markante Punkte als Orientierungshilfen geachtet. Das kann zum Beispiel ein Garagentor sein. „Ich weiß dann genau, am Garagentor ist ein sich absenkender Bordstein, dort kann ich gut die Straße überqueren“, sagt Sylvia Lenz. „Was viele nicht wissen: In Hamburg gibt es Bodenindikatoren wie Leitstreifen und Rippenplatten, die blinde und sehbehinderte Menschen entlang bestimmter Strecken leiten. Das ist für mich neu und ich muss noch lernen, damit umzugehen. In meinem letzten Wohnort in Koblenz gab es das nicht.“
No-Go im Umgang mit blinden Menschen
Nicht selten kommt es vor, dass sehende Menschen blinden Menschen helfen möchten. „Wenn jemand mich fragt, ob er mir helfen kann, dann freue ich mich immer darüber“, sagt Sylvia Lenz. „Es kommt allerdings häufig vor, dass Menschen – ohne sich vorher bemerkbar gemacht zu haben – meinen Stock anheben. Das finde ich nicht nur übergriffig, es hilft mir auch einfach nicht, denn der Stock muss zu jeder Zeit am Boden sein.“ Mit den Nachbarinnen und Nachbarn in ihrem neuen Umfeld hat sie bisher ausschließlich gute Erfahrungen gemacht: „Die Nachbarschaft ist sehr nett hier“, erzählt sie. „Außerdem schätze ich den Bioladen am Hammer Park. Ich habe das Gefühl, dass Menschen, die im Bio-Laden einkaufen, generell offener auf andere Menschen zugehen. Ich bin wirklich froh, dass der Laden in der Nähe ist.“
Box:
Zum Weiterlesen
Wollen Sie mehr über Sylvia Lenz erfahren? Ihre Autobiografie „Glaube, Gaumenfreuden und Musik – Ich bin blind. Na und?“ ist im Buchhandel erhältlich.
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Blind in einer neuen Stadt
Wie suchen sich blinde Menschen eine Wohnung aus? Wie finden sie zum nächsten Supermarkt, zur U-Bahn? Als sehende Person geht man ganz selbstverständlich davon aus, dass blinde Menschen permanent auf Hilfe angewiesen sind. Im Gespräch mit BGFG-Mitglied Sylvia Lenz stellen wir fest: Das ist falsch. Die studierte Theologin und ausgebildete Callcenter-Agentin lebt seit dem 01.10.2020 im BGFG-Quartier in Hamm-Nord. Sie ist blind.
Mainz, Koblenz, Trier, Stuttgart, Marburg – Sylvia Lenz hat bereits an vielen Orten in Deutschland gelebt. Aufgewachsen ist sie in Saarburg in Rheinland-Pfalz. Seit dem 01.10.2020 lebt sie offiziell in Hamburg in einer Zwei-Zimmer-Wohnung der BGFG in Hamburg-Hamm. Die Wohnung habe ihr von Anfang gut gefallen, erzählt sie. Aber woran macht sie das eigentlich fest? „Es gibt viele Dinge, die man durch Fühlen und Hören herausfinden kann. Ich habe schon so viele Wohnungen gesehen und man hat auch als blinder Mensch ein Gespür dafür, ob einem eine Wohnung gefällt und was sich gut anfühlt“, sagt Sylvia Lenz. Auch Gerüche spielen dabei eine Rolle. „Ich bin Nichtraucherin und lege zum Beispiel großen Wert auf eine gute Luft in der Wohnung.“ Um auf Nummer sicher zu gehen hatte Sylvia Lenz bei der Besichtigung ihrer neuen Wohnung trotzdem eine sehende Begleitung dabei. „Einfach, um auf die optischen Aspekte zu achten, die man durch Fühlen und Hören nicht einbeziehen kann“, erzählt sie.
Das Smartphone als digitaler Sinnes-Helfer
Direkt am Abend der Besichtigung schrieb Sylvia Lenz der BGFG, dass sie Interesse an der Wohnung habe. „Keine 24 Stunden später erhielt ich die telefonische Zusage“, erinnert sich Sylvia Lenz. Der Mietvertrag kam per Post. Damit Sylvia Lenz weiß, wo sie auf dem Vertrag unterschreiben muss, hatte sie im Vorfeld darum gebeten, die entsprechende Stelle mit einem fühlbaren Hinweis zu versehen. Die Vertragsinhalte ließ sie sich – wie andere Dokumente und Briefe auch – durch eine App ihres iPhones vorlesen. „Es gibt wahnsinnig viele dieser Hilfs-Apps. Die Schriftstücke werden einfach per Smartphone gescannt und dann von der App vorgelesen. Das funktioniert selbst bei kleinsten Schriftstücken, wie der Beschreibung auf Kosmetikprodukten“, erzählt sie.
Ankommen und einleben
Sylvia Lenz fühlt sich in ihrer neuen Wohnung sehr wohl und hat sich gut eingelebt. „Viele sehende Menschen stellen sich vor, dass blinde Menschen auch in ihrer Wohnung mit dem Stock herumlaufen“, sagt sie. „Das ist aber nicht so. Ich bewege mich in der Wohnung ganz frei. Man bekommt schnell ein Gefühl für Räumlichkeiten und ich konnte mir ja auch selbst aussuchen, was wohin gestellt wird. Die Wohnung hatte ich schnell drauf. Nur mit dem Umfeld ist das natürlich schwieriger. Ich benötige dafür ein sogenanntes Mobilitäts- und Orientierungstraining, das man bei der Krankenkasse und dem Amt für Eingliederungshilfe beantragt.“
Mobilitäts- und Orientierungstraining
Bei dem Mobilitäts- und Orientierungstraining handelt es sich um ein Schulungsprogramm, das es blinden Menschen ermöglicht, sicher und selbständig mobil zu sein und sich orientieren zu können. „Wenn man zum ersten Mal das Training in Anspruch nimmt, als jugendliche oder neu-blinde Person, erlernt man erstmal die Grundtechniken: Wie gehe ich mit dem Langstock? Wie schleife ich ihn und wie erkenne ich Hindernisse? Diese Grundtechniken beherrsche ich schon lange. Bei mir geht es jetzt darum, dass mir eine geschulte Person die wichtigen Wege meiner neuen Umgebung beibringt: den Weg zur U- und zur S-Bahn, den Weg zum nächsten Supermarkt, zum Blinden- und Sehverein, in dem ich mich engagiere, und den Weg zu meiner Kirchengemeinde“, erkärt Sylvia Lenz. Bei dem Training gibt sie die Ziele vor, die für sie wichtig sind und die Trainerin oder der Trainer sucht den optimalen Weg. Dabei wird auf markante Punkte als Orientierungshilfen geachtet. Das kann zum Beispiel ein Garagentor sein. „Ich weiß dann genau, am Garagentor ist ein sich absenkender Bordstein, dort kann ich gut die Straße überqueren“, sagt Sylvia Lenz. „Was viele nicht wissen: In Hamburg gibt es Bodenindikatoren wie Leitstreifen und Rippenplatten, die blinde und sehbehinderte Menschen entlang bestimmter Strecken leiten. Das ist für mich neu und ich muss noch lernen, damit umzugehen. In meinem letzten Wohnort in Koblenz gab es das nicht.“
No-Go im Umgang mit blinden Menschen
Nicht selten kommt es vor, dass sehende Menschen blinden Menschen helfen möchten. „Wenn jemand mich fragt, ob er mir helfen kann, dann freue ich mich immer darüber“, sagt Sylvia Lenz. „Es kommt allerdings häufig vor, dass Menschen – ohne sich vorher bemerkbar gemacht zu haben – meinen Stock anheben. Das finde ich nicht nur übergriffig, es hilft mir auch einfach nicht, denn der Stock muss zu jeder Zeit am Boden sein.“ Mit den Nachbarinnen und Nachbarn in ihrem neuen Umfeld hat sie bisher ausschließlich gute Erfahrungen gemacht: „Die Nachbarschaft ist sehr nett hier“, erzählt sie. „Außerdem schätze ich den Bioladen am Hammer Park. Ich habe das Gefühl, dass Menschen, die im Bio-Laden einkaufen, generell offener auf andere Menschen zugehen. Ich bin wirklich froh, dass der Laden in der Nähe ist.“
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Zum Weiterlesen
Wollen Sie mehr über Sylvia Lenz erfahren? Ihre Autobiografie „Glaube, Gaumenfreuden und Musik – Ich bin blind. Na und?“ ist im Buchhandel erhältlich.